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Sehnsucht nach normalem Leben

Bärbel Mende-Danneberg

Systemrelevant weiter so? Ganz ehrlich, ich kann die vielen Ermunterungsworte und Mutmachbotschaften nicht mehr hören. Alle sind lieb. Miteinander füreinander. #bleibdaheim blinkt die Endlosschleife auf meinem Handy, das mit einer App mein Beobachtungsspion werden soll. Das Lob von Innenminister Nehammer in den Frühnachrichten, wie vorbildlich brav wir uns an die verordneten Einschränkungen gehalten haben, verdirbt mir mein Corona-Frühstück. Ostern habe es 2000 Anzeigen gegeben, 380 Organstrafen wurden von der Polizei verhängt. Viele Einsätze kamen wegen Vernaderung von Nachbarn zustande. Fingerzeig, Maskenzwang, wann sperren die Konsumtempel endlich wieder auf?

Die Werte verschieben sich. Gesichtsverhüllungen, noch bis vor kurzem bei Strafandrohung als Vermummungsverbot geahndet, sind nun Gesichtsmaskenpflicht in Einkaufsläden oder öffentlichen Verkehrsmitteln. Bei Nichtbefolgung hagelt es Geldstrafen, die von der Exekutive ähnlich einem Verkehrsdelikt eingehoben werden. Abstandsregeln werden zu Anstandsregeln. Drei Meter? Einen Meter? Mama sagt, Oma darf nicht. Oma sagt, ich darf nicht dürfen. Das Kind umrundet Oma argwöhnisch aus der Ferne und schaut erstaunt auf sein #bleibdaheim-Handy. Ist wieder Krieg? denkt Oma.

Als 1945 der Krieg aus war, stürmten im zerbombten Berlin die Menschen aus den Luftschutzkellern hinaus in die Frühlingssonne. Viele Nächte meiner ersten zwei Lebensjahre habe ich dort verbracht mit einer mir unbekannten Angst und der isolierten Sehnsucht meiner Mutter nach einem normalen Leben ohne Bomben. In Österreich wird der 8. Mai 1945 zweigeteilt als Tag der Befreiung oder Tag der Besatzung begangen. Ob das Mauthausen Komitee Österreich heuer am 8. Mai am Wiener Heldenplatz wieder das »Fest der Freude« in Erinnerung an die Befreiung von der Nationalsozialistischen Terrorherrschaft feiern wird, bleibt durch Corona fraglich. Die geschichtsträchtige Zweiteilung hat sich in 75 Jahren Streben nach Überfluss, Profitwahn und Konsum erhalten. Wir, die Nachgeborenen, haben als 68er-Bewegung diesen Konsumwahn zwar verachtet und unsere nach Sicherheit und Normalität strebenden Eltern verlacht, bis wir selbst unsere Eigenheime und SUVs hatten oder im schleichenden Gang durch die Institutionen am Wiederaufbau einer Gesellschaft mitwirkten, die das Virus der Vernichtung in sich trägt.

Dann legte sich ratlose Stille über das Land. Alle Räder stehen still, wenn ein starkes Virus will. Das Unberechenbare ist die Angst. Und das Verhängnis ist der Drang, in den normalen Bahnen weiter zu wirtschaften. »Die Elemente der Lebensweise hier sind unedel. Es muß die Unwürdigkeit der Produktionsverhältnisse sein, die da alles banal macht. Hier, wenn irgendwo, wäre Distanz nötig.« (Bertold Brecht, »Arbeitsjournal«, 30. März 1942)

Bärbel Mende-Danneberg, geb. 1943 in Berlin, Maßschneiderin, dipl. Krankenschwester, Beislwirtin, ab 1974 Journalistin in Wien, seit 2003 in Pension.

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